Von hybriden Bedrohungen und Platons Höhle

Dr. Konstantinos Tsetsos lehrt an der Universität der Bundeswehr in München und ist Head of Foresight beim Metis Institut für Strategie und Vorausschau. Er berät das Bundesverteidigungsministerium zu strategisch relevanten Fragen der aktuellen und zukünftigen internationalen Politik. Am 06. November spricht er auf der protekt.

Sie sprechen auf der protekt im Themenstrang "Zivile Verteidigung". Der Operationsplan Deutschland der Bundeswehr soll eine sicherheitspolitische Neuausrichtung Deutschlands nach dem 24. Februar 2022 definieren. In dem, was daraus bekannt ist, heißt es, dass "zentrale Anteile der Landes- und Bündnisverteidigung in Deutschland mit den dafür erforderlichen zivilen Unterstützungsleistungen" gebündelt werden. Haben Sie eine Vorstellung davon, welche zivilen Unterstützungsleistungen im Verteidigungsfall vonnöten sind?

Da wir ja dann vom Verteidigungsfall ausgehen – alle! Alle, die Sie sich vorstellen können. In der Regel wird es die Verlegefähigkeit sowie weitere Unterstützungsleistungen betreffen. Das kann auch so was wie die Grundversorgung mit Wasser und Benzin oder die Suche von Bereitstellungsräumen oder das Freihalten von Straßen beinhalten. Sie müssen sich vorstellen, wenn dieser Fall tatsächlich eintritt, dann wird das komplette staatliche Leben, der komplette öffentliche Mechanismus auf die Verteidigung zugeschnitten. Verteidigungsfall ist nichts, was man so nebenbei macht. Sicher ist es was anderes, wenn das Baltikum oder Polen angegriffen werden und der Bündnisfall eintritt. Aber auch da hat das Militär dann Vorrang und die öffentliche Verwaltung hat Sorge zu tragen, dass notwendige Güter bereitgestellt oder verlegt werden, die zuvor ziviler Natur waren.

Welche Güter wären das zum Beispiel? Sowas wie Automobilhersteller?

Ja, zum Beispiel. Das ist in Deutschland historisch gesehen ja auch nicht so neu, wenn Sie daran denken, woher so manche Automarke kommt. Die Automobilhersteller wären in jedem Fall – wie andere Unternehmen auch – von Einbußen bei ihren Logistik-Ketten betroffen. Über kurz oder lang werden diese und alle anderen Unternehmen in der Kriegswirtschaft und müssten dann beispielsweise Ersatzteile für irgendwelche Fahrzeugklassen bauen. Es ist aber gerade dann vorstellbar, dass diese Schlüsselindustrien - oder eben auch die kritischen Infrastrukturen - zum Ziel von kinetischen, Cyber- oder Spionage-Angriffen werden.

Meinen Sie denn, dass zivile Akteure dafür vorbereitet sind?

Manche mehr, manche weniger. Manche verstehen die Tragweite nicht, wie Krieg sich arg gewandelt hat und dass es über uns hereinbrechen kann, jederzeit. Salopp gesagt, wenn sie die Achillesferse Deutschlands treffen wollen, dann greifen sie Freitag nach Dienstschluss an. Das ist Teil des Überraschungseffektes. In den gravierenden, essentiellen ersten 24 Stunden kann das schon eine Steigerung des Schocks bedeuten.

Gerade in der Verwaltung wird darüber zu wenig nachgedacht. Ausnehmen möchte ich Polizei und Feuerwehr, die beschäftigen sich im Rahmen des Katastrophenschutzes oder der Gefahrenabwehr schon auch heute damit. Aber die öffentliche, zivile Verwaltung scheint das noch nicht verinnerlicht zu haben. In einem solchen Fall gibt es wenig Zeit für endlose Prüfungsschleifen. Da üben wir auch noch zu wenig.

Der OP-Plan Deutschland versucht genau darauf vorzubereiten, sodass die Kommunen, Landkreise, Länder ihre Zuständigkeiten und Bedarfe, die sie dann haben, kennen und im Idealfall Prozesse bereits einstudiert haben. Gleichzeitig müssen sie nicht nur die Bundeswehr unterstützen, sondern müssen auch die Bevölkerung weiter schützen. Das kann der Katastrophenschutz sein, die Krisenkommunikation, der Schutz von Kulturgütern, die Versorgungssicherheit mit Energie, Nahrungsmitteln oder die Gesundheitsversorgung und all das unter erschwerten Bedingungen, beispielsweise weil der Strom ausgefallen ist.

Betonen möchte ich auch, dass Betreiber der kritischen Infrastruktur dafür durchaus bereits sensibilisiert sind. Das sind essentielle Säulen des öffentlichen Lebens und deswegen finde ich Ihre Konferenz auch so wichtig! Denn die erlaubt es uns nicht, in so eine Gemütlichkeit zu fallen.

Da Sie die Verwaltung ansprachen – ich stelle mir eine kommunale Vertreterin vor, die wird sagen, sie hat kein Geld, die haushaltspolitische Lage erlaubt jetzt nicht auch noch solche Vorbereitungen.

Entschuldigung, das kann sie gerne sagen, aber das ist keine Begründung. Über Modalitäten nachdenken bedarf kein Geld. Mal Freitagnachmittag darüber zu sprechen, was im Verteidigungsfall gebraucht und getan wird, kostet nichts. Niemand verlangt, dass hier dann die eierlegende Wollmilchsau vorgelegt wird. Aber klar, ich bin durchaus dafür, dass von staatlicher Seite Anreize für die geschaffen werden, die sich auf den Verteidigungsfall vorbereiten und selbstverständlich muss investiert werden. Es gibt aber eben auch kostenneutrale Vorsorge durch Planung, damit sollten wir anfangen.

Sie sprechen auf der protekt insbesondere von hybriden Bedrohungen. Gibt es im Jahr 2024 überhaupt noch einen Unterschied zwischen Landes- und Bündnisverteidigung und dem Abwehren von hybriden Bedrohungen oder ist das alles miteinander vermengt?

Beides ist zunehmend vermengt. Menschen haben eine Affinität, Krieg so zu denken, so wie es von Deutschland zuletzt begonnen wurde oder wie Russland jetzt in die Ukraine eingefallen ist. Heute bestehen aber auch psychologische Möglichkeiten, um auf die Bevölkerung einzuwirken. Das Schlachtfeld ist nicht mehr nur das Feld, wo sich Panzer und Soldaten treffen, sondern auch in unseren Köpfen. Es manifestiert sich durch Einflussnahme, strategische Korruption - also das Schmieren von Schlüsselpersönlichkeiten - oder gezielte Desinformation. Das sind haptisch nicht greifbare Entwicklungen. Das Ziel ist hier immer die Schwächung des politischen Gegners. Nach dieser Lesart ist Deutschland im Jahr 2024 im Krieg. Ein Jurist würde das verneinen, denn das Völkerrecht kennt hauptsächlich nur den physischen Krieg. De facto werden wir aber bereits angegriffen. Das zeigt sich in Wahlergebnissen, in Cyberangriffen auf Kommunen oder auf Krankenhäuser. Da sind oft auch staatlich oder staatlich affiliierte Akteure am Werk. Wenn sie so wollen, hat Putin in drei Bundesländern Wahlen gewonnen – auch dank erfolgreicher Desinformation.

Jetzt ist in den USA nahezu die gleiche Situation zu beobachten. Wenn dort Wahlen in dem Sinne beeinflusst werden, dass der Wunschkandidat ins Weiße Haus einzieht – dann muss ich doch gar nicht erst Krieg anfangen, dann hab ich meinen Verbündeten schon an der Spitze des zuvor gegnerischen Staates.

Psychologische Kriegsführung hat das Ziel, politische Mandatsträger zu bestimmten Entscheidungen zu zwingen. Das wäre die vierte Generation der Kriegsführung. Die fünfte Generation der Kriegsführung - hybride Bedrohungen – sind nicht-kinetisch und haben das Ziel, demokratische Prozesse zu stören, damit Entscheidungsträger auf Grundlage falscher Informationen handeln oder in einem vorgegebenen Szenario, was ihnen vorgegeben wird, nur noch reagieren zu können. Ich hacke also beispielsweise Ihre kritische Infrastruktur, dann sind Sie beschäftigt mit Ihrer Paralyse. Wir sind gerade an der Schwelle in die sechste Generation. Da geht es nicht mehr darum, Entscheidungsprozesse zu stören, sondern sie komplett zu hijacken. Sie übernehmen dann die Realität des Gegners, und natürlich, wenn Sie damit erfolgreich sind, dann brauchen sie keinen Krieg. Sie leben dann in der Truman Show. Interessanterweise haben wir in der westlichen Philosophie mit Platons Höhlengleichnis angefangen und wir bewegen uns gerade mit Lichtgeschwindigkeit in Richtung Platons Höhlengleichnis zurück. Bloß kann da noch einer aus der Höhle rausgehen, die Realität checken und wieder hineingehen und den anderen davon erzählen. Dank Social Media und künstlicher Intelligenz verbauen wir uns selbst den Ausgang aus der platonischen Höhle.

Wenn sie mit all dem erfolgreich sind, selbstverständlich, dann brauchen Sie keinen Krieg. Dann ist nicht die Schwächung das Ziel, sondern das Aufrechterhalten einer Politik, die Ihren Zielen dient.

Zu all dem kommen nun auch noch klimatische Vulnerabilitäten, über die Sie auch auf der protekt sprechen werden. Welche Rolle spielen die in der Gemengelage?

Der Klimawandel verändert unsere Umwelt schneller als sich das nach unseren Vorstellungen zu wünschen wäre, zumindest ist das die gängige Forschungsmeinung. Die Emotionalität zum Thema grüne Transformationsprozesse wird in dieser Realität politisch als Waffe eingesetzt. Aber es ergeben sich auch weitere Vulnerabilitäten. Nehmen Sie das Beispiel Waldbrände: Sie legen fünf, sechs Feuer in Deutschland, Sie paralysieren die Krisenmanagementfähigkeit durch Überstrapazieren des vorhandenen Systems und agitieren, dass die Regierung unfähig ist. Damit erreichen Sie bereits eine Schwächung Deutschlands. An dieser Stelle bleiben Sie aber nicht stehen. Denn die Bundeswehr unterstützt in diesem Szenario in Deutschland im Katastrophenschutz durch Amtshilfe. Sie aber nehmen nun noch die im Baltikum stationierten deutschen Soldaten ins Ziel. Oder Sie greifen zusätzlich noch den Hamburger Hafen an und hacken das Terminal. Sie bringen damit das Krisenmanagement komplett aus der Bahn.

Ich habe von dem Operationsplan Deutschland, den die Bundeswehr auf der protekt vorstellen wird, nur ein wenige Seiten langes PDF online gefunden. Das wird kaum helfen. Was wird derzeit denn tatsächlich geplant und getan, um solche Szenarien wie das der platonischen Höhle oder das mit den sechs Waldbränden zu verhindern?

Die platonische Höhle verhindern wir nur, indem wir das demokratische System stärken, denn es ist von allen schlechten Systemen das Beste. Das demokratische System ist zunächst hochgradig verwundbar und gleichzeitig das resilienteste. Warum verwundbar? Es erlaubt es, sich selber abzuschaffen. Warum resilient? Weil es mit der Vermählung mit dem Kapitalismus zu Innovation fähig ist. Die platonische Höhle verhindern Sie nur mit Staatsbürgern, mit Bildungspolitik. Mit Menschen, die nicht nur ihre Rechte fokussieren und ihre Pflichten vernachlässigen. Das schaffen Sie nicht allein dadurch, in dem Sie auf Messwerte wie den ökonomischen Status oder die Akademisierungsrate schauen. Sie brauchen eine ernsthafte staatsbürgerliche Bildungsoffensive und das erodiert leider, auch auf Grund der multiplen Einflussmöglichkeiten, die andere auf die Bevölkerung mit ihren Fehlinformationen haben. Damit würde ich die platonische Höhle bekämpfen.

Bei den hybriden Bedrohungen – da gibt es keine hundertprozentige Sicherheit. Jede Ebene - angefangen beim Individuum, beim einzelnen Bürger, über die Kommune bis zum Landkreis, bis zum Bundesland, bis zur Bundesregierung, bis zur Europäischen Union – muss top down als auch bottom up Ihre Resilienz steigern. Wie machen Sie das? A, indem Sie solche möglichen Szenarien antizipieren, und B, indem Sie sich im Rahmen der finanziellen, personellen, technischen Möglichkeiten darauf einstellen und C, indem Sie ständig üben – damit meine ich nicht irgendwelches Marschieren auf der Wiese, sondern mittels Simulationstechnik, Virtual Reality und so weiter. All das muss aber in der Breite geschehen. Also nicht nur öffentlich-staatlich oder gar nur militärisch-staatlich, sondern Sie müssen die Schlüsselunternehmen an Bord holen, Sie müssen Plattformen schaffen, wo sich auch NGOs bei Bedarf koordinieren können. Wenn Sie all das etablieren, dann minimieren Sie die Schadensentfaltung und steigern die Krisenreaktionsfähigkeit. Anders gesagt, der Schaden muss absorbiert werden, denn Schaden wird es immer geben, den bekommen Sie nicht auf Null und das ist auch nicht das Ziel. Das Ziel ist, dass wenn ein außergewöhnlicher Umstand eintritt, dass Sie eine Absorptionsdominanz haben. Das heißt, nach dem Schlag kann sich die Gesellschaft wieder aufrichten und einen Zustand herstellen, der zwar nicht mehr so ist wie vor der Krise. Aber auch im Zustand nach der Krise funktioniert das öffentliche Leben, die Versorgungsketten laufen, das politische und ökonomische System ist nicht groß in Mitleidenschaft gezogen. Tatsächliche Resilienz heißt in dem Sinne, nicht alles zu verhindern, sondern trotz widriger Umstände weiter operieren zu können, als Staat, als Unternehmen, als Behörde.

Das gilt, wie gesagt, auch für das Individuum. Was machen Sie, wenn etwas nicht ganz so Glimpfliches passiert wie Corona und Sie nur Ihren vergammelten Joghurt im Kühlschrank sehen?

In den nächsten Supermarkt einbrechen?

Genau! Mit der Idee sind Sie aber nicht allein und die öffentliche Ordnung ist ausgesetzt. Daher sollten Sie die Zeit, die der staatliche und zivilgesellschaftliche Apparat braucht, um den größten Missstand zu lösen – also, dass die Bevölkerung den Zustand beispielsweise ohne großen Hunger übersteht - selbstständig überbrücken können. Den Empfehlungen des BKK zu folgen und die paar Dosen Ravioli vorrätig zu haben genauso wie Trinkwasser, einen kleinen Gaskocher etc., das ist schon empfehlenswert beziehungsweise der Minimalstandard. Darüber hinaus gilt es sich zumindest darauf mental einzustellen, dass Sie auch mal drei Tage ohne Strom leben müssen.

Ihre Antwort zu den hybriden Bedrohungen fand ich schon überzeugend. Wie die platonische Höhle zu verhindern ist, da würde ich gern noch einmal nachfragen – genügt die staatsbürgerliche Bildungsoffensive in der Vermählung von Demokratie und Kapitalismus, wenn sich Menschen fragen, ob sie eine ökonomische Perspektive haben, nicht zuletzt trotz Klimakatastrophen und KI?

Sie sprechen mit einem Platoniker. In der Familie haben Sie Kommunismus, in der Gesellschaft haben Sie Turbo-Kapitalismus. In der Regierung müssten Sie wieder Kommunismus haben, dann wären alle Staatenlenker Philosophenkönige und haben in einer solchen Utopie kein eigenes Vermögen. Das haben wir nicht wirklich. Demokratie schafft den Rahmen für kapitalistisches, unternehmerisches Handeln. Demokratie verspricht ein Wachstumsmodell und in dieser Symbiose findet sich im Grunde der Aufschwung von 1945 bis heute, zumindest in dem, was die freie Welt genannt wird. Das gilt es unter Bedingungen der Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten. Aber wie Sie richtig sagen, dass ist hier nicht das Ende der Geschichte und es ist nicht mehr so einfach wie gewohnt, wie zum Beispiel bei der Boomer-Generation, aber es gibt immer noch sichere Arbeitsplätze und Wachstumsperspektiven. Es gibt eine Finanzkrise, eine angespannte Haushaltslage, das stimmt alles. Aber die Fähigkeit, die platonische Höhle zu verlassen, bietet meines Erachtens nur diese Kombination.

Dr. Konstantinos Tsetsos wird am 06. November 2024 um 15.10 Uhr auf der protekt in der KONGRESSHALLE AM ZOO in Leipzig zum Thema „ Hybride Bedrohungen und Klimakrise – Auswirkungen auf KRITIS? “ sprechen.